Sozialpraktikum

Einleitung

Im Schuljahr 1994/95 regte die damalige Schülervertretung (SV) bei der Schulleitung die Einführung eines Sozialpraktikums an. Eine Planungsgruppe bestehend aus Lehrern, Eltern und Schülern wurde beauftragt, die Rahmenbedingungen eines solchen Praktikums zu erarbeiten. Nach einer mehrmonatigen Arbeitsphase legte die Planungsgruppe im Januar 1995 eine Konzeption zu Begründung, Zielsetzung und Organisationsstruktur eines Sozialpraktikums der 11. Jahrgangsstufe unseres Gymnasiums vor. Als der Schulträger auf der Grundlage dieses Papiers und der Voten der Gremien schließlich die Einführung des Praktikums beschloss, lag ein intensiver, engagiert und kontrovers geführter Meinungsbildungs- und Diskussionsprozess in Kollegium, Eltern- und Schülerschaft hinter uns.

Pro und contra

Die Idee des Sozialpraktikums fand nicht nur Befürworter: Sind knapp vier Wochen Unterrichtsausfall vertretbar? Werden unsere Schüler nicht überfordert oder gar angesichts des Pflegenotstands als billige Arbeitskräfte missbraucht? Ist eine solche Öffnung der Schule nach außen mit dem gymnasialen Anspruch vertretbar? Ist ein soziales Praktikum angesichts der Möglichkeit, nach dem Abitur Zivildienst zu leisten, für eine Jungenschule nicht unsinnig? In solchen und ähnlichen Fragen lassen sich die Bedenken der Kritiker bündeln.

Demgegenüber knüpften die Befürworter des Praktikums ihre Hoffnungen an die mit ihm verbundenen Chancen, für einen – gemessen an der Schulzeit kleinen – Zeitraum, den Lernort Schule gegen ein anderes, ebenso wichtiges Lernfeld – nämlich das des sozialen Engagements in konkreter Begegnung mit Hilfebedürftigen und den Menschen, die sich täglich um sie kümmern – einzutauschen. Ausdrücklich sei hier betont, dass das Sozialpraktikum nicht ausschließlich, aber auf besondere Weise den Bildungs- und Erziehungsauftrag einer dem christlichen Menschenbild verpflichteten Schule konkretisieren soll. Betrachtet man die vergangenen sieben Schuljahre seit Einführung des Praktikums, so lässt sich auf dem Hintergrund dieser Diskussionen sicher insgesamt eine positive Bilanz ziehen:

„Ich weiß noch genau, als wir uns in der Schule während des Sozialpraktikums trafen, dass ich und viele andere Schüler übervoll mit Eindrücken waren und jeder sehr angetan war von den Erfahrungen des Praktikums. Daher sehe ich das Sozialpraktikum als eine gute Einrichtung, die unbedingt beibehalten werden sollte. In diesen dreieinhalb Wochen konnte ich so viele Eindrücke sammeln und Erfahrungen machen, wie ich sie niemals in der Schule bekommen könnte. Ich glaube, dass ich alles Erlebte noch nicht richtig verarbeitet habe, obwohl mir der Bericht sehr beim „Aufarbeiten“ geholfen hat. Trotz der nächsten lern- und arbeitsintensiven Wochen, die sich durch das Sozialpraktikum wegen des Unterrichtsausfalls nun ergeben, sollte es keinen davon abhalten, sich auf diese Erfahrungen einzulassen.“

Dieses Fazit zieht Martin Hillesheimer, der sein Praktikum an der Behindertenschule Antoniushaus in Hochheim leistete.

Thomas Köllner, der im Kath. Kinderhaus St. Alban – St. Jakobus arbeitete, schreibt:

„Da ich die Einstellung hatte, während des Sozialpraktikums etwas zu leisten, übernahm ich eigentlich alle Aufgaben, die sich mir boten. Deshalb möchte auch ich mich gegen das Vorurteil äußern, dass Kindergärten so genannte „Faulheitsplätze“ während des Praktikums darstellen. Meine Arbeitszeit betrug das Maximum von sieben Stunden täglich (Pausen nicht inbegriffen). In diesem Zeitraum versuchte ich die Kinder verantwortungsbewusst zu betreuen und nebenbei die täglichen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten zu bewältigen.“

Christopher Mühleck, im St.-Vinzenz- und -Elisabeth-Hospital eingesetzt, schreibt:

„Wenn ich diese dreieinhalb Wochen nun ergebnissuchend überblicke, komme ich zu dem Schluss, dass diese Erfahrung, die ich gemacht habe, wohl eine der wichtigsten in meinem Leben war. Anderen Menschen zu helfen und ihnen und sich selbst ein Gefühl der Zufriedenheit zu geben, ist wohl das Schönste, was man für seinem Nächsten tun kann.“

Diese kurzen Zitate spiegeln, wie ich denke, zutreffend die Erfahrungen eines Großteils unserer Schüler wider. Sie zeigen, dass das Opfer der Unterrichtszeit nicht umsonst ist und dass der Schüler, der mit Leistungsbereitschaft, Offenheit und der notwendigen Achtung vor dem menschlichen Leben in das Praktikum geht, eine Vielzahl wertvoller Erfahrungen machen kann – auch im Kindergarten, was angesichts der oft gehörten despektierlichen Bemerkung, das Sozialpraktikum sei ein „Kindergartenpraktikum“, ausdrücklich zu betonen ist. Auch die vielen Schülern vermittelte Erfahrung, an eigene Grenzen zu gehen und diese überwinden zu können, gehört zur positiven Bilanz des Sozialpraktikums: So berichtet z. B. ein Praktikant, er habe am Anfang „kein Blut sehen können“, sei dann in der letzten Woche des Praktikums jedoch in der Lage gewesen, bei einer Operation zuzusehen. Abbau von Vorurteilen, Respekt vor der Tätigkeit der in den einzelnen Einrichtungen arbeitenden Menschen, Nachdenken über die eigene Lebenssituation sind weitere „Lernziele“, die die Praktikumszeit den Schülern durch eigenes Erleben und Mitwirken vermitteln konnte.

Die Organisationsstruktur

Zu diesem grundsätzlich positiven Bild trägt die Organisationsstruktur des Praktikums nicht unwesentlich bei: die Schüler haben die Möglichkeit, sich ihre Praktikumsplätze selbst zu suchen. Diese Praxis hat entscheidende Vorzüge: die Schüler stellen oft den ersten persönlichen Kontakt zu ihrer Einrichtung her, informieren sich über mögliche Tätigkeiten und können selbst entscheiden, ob ihnen dieses Betätigungsfeld liegt. Die Zulassung eines möglichst breiten Spektrums von Praktikantenstellen trägt dazu bei, dass jeder Schüler eine Tätigkeit findet, die er gerne und mit Freude ausführen kann. In allen Jahrgängen, die bisher das Sozialpraktikum geleistet haben, hat die große Mehrheit der Schüler durch Eigeninitiative ihren Platz gefunden.

Auch die Betreuungskonzeption erweist sich grundsätzlich als hilfreich: Neben der Betreuung am jeweiligen Einsatzort durch die Einrichtung findet jeder Schüler einen Ansprechpartner in seinem Betreuungslehrer bzw. -lehrerin, der/die sich gemeinsam mit ihm in der Institution vorstellt, die Einzelheiten des Einsatzes klärt und bei Schwierigkeiten vermitteln kann. Die Bedenken, Schüler könnten psychisch überfordert werden, haben sich sicher nicht bestätigt.

Reflexionstag

Abgerundet wird unser Sozialpraktikum mit einem Reflexionstag am vorletzten Schultag. Gemeinsam mit der Schulseelsorge, den Stammkursleitern und/oder Religionslehrern werden die jeweiligen Aufgaben und Erfahrungen des Praktikums in vier Unterrichtseinheiten diskutiert und reflektiert. Mit einem abschließenden Praktikumsbericht, der immer am Freitag der ersten Schulwoche des neuen Schuljahres abgegeben werden muss, ist das Sozialpraktikum offiziell abgeschlossen und kann somit durch die Schulleitung zertifiziert werden.

Entwicklung

Um das Sozialpraktikum weiterzuentwickeln, mussten in den vergangenen Jahren allerdings auch immer wieder Veränderungen in der Organisationsstruktur vorgenommen werden. So machte die Reform der MSS eine Verlegung des Praktikums in die letzten dreieinhalb Unterrichtswochen der Jahrgangsstufe 10 notwendig. Die teilweise unbefriedigende Qualität der Abschlussarbeiten erforderte eine stärkere Lenkung der Schüler, was Inhalt, Umfang, Gliederung und Reflexionsniveau des Praktikumsberichtes angeht. Eine Überarbeitung der Praktikumszeugnisse, die im Anfangsstadium reine Teilnahme-Bescheinigungen waren und die jetzt in abgestufter Form die Leistungen während der Praktikumszeit und die Qualität der Abschlussarbeit charakterisieren, trug zudem zu einer größeren Gerechtigkeit und zu einer Aufwertung des geleisteten Dienstes bei.

Inzwischen arbeitet die Schule mit insgesamt 287 Institutionen in Mainz und Umgebung zusammen. Unsere Praktikanten werden von den Einrichtungen gerne genommen und sie verhalten sich insgesamt vorbildlich, was die Zeugnisse der Institutionen immer wieder deutlich machen. Nicht zuletzt zeigen Rückmeldungen ehemaliger Schüler, dass das Sozialpraktikum des Willigis als „Zusatzqualifikation“ bei Bewerbungen um einen Ausbildungs- oder späteren Arbeitsplatz eine bemerkenswerte Rolle spielt.

Letztlich aber liegen Erfolg oder Misserfolg einer Praktikantentätigkeit beim einzelnen Schüler selbst: Wer mit der nötigen Offenheit und Leistungsbereitschaft an das Praktikum herangeht, der kann wertvolle Erfahrungen für sein Leben machen. Dies möchte ich abschließend den folgenden Jahrgängen wünschen.

Dank

Ein herzliches Dankeschön geht an die Schüler der bisherigen und vor allem der ersten Jahrgänge, die mit dem Sozialpraktikum konfrontiert wurden und – vielleicht mit anfänglicher Skepsis – insgesamt ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft gezeigt und unsere Schule gut in der Öffentlichkeit vertreten haben. Ein Dankeschön auch an alle Kolleginnen und Kollegen, die die Praktikanten in den letzten Schuljahren betreut haben und durch Unterstützung und konstruktive Kritik an der Weiterentwicklung des Praktikums beteiligt waren und sind.

Ansprechpartner in der Schule ist Ulrich Meurer, StD i. K., der neben dem Sozialpraktikum auch das Berufspraktikum betreut.