Multicultural London – London Football Weekend 2014
Es ist eine gute Sitte des seit 2007 stattfindenden London Football Weekends, die entlegendsten Ecken der 8-Millionen Metropole auszuleuchten und zu entdecken. Die Fußballspiele, die wir im Rahmen dieser Fahrt besuchen, eignen sich in dieser Hinsicht vortrefflich, ist doch lediglich das Stadion der Queens Park Rangers als innenstadtnah zu bezeichnen. Dass sich auch unsere Unterkunft inzwischen in die Außenbezirke Londons verlagert hat, spielgelt die Entwicklung der Megacity deutlich wider. Mit einer Träne im Knopfloch mussten wir unsere liebgewonnene Bruchbude namens West 2 Hostel im malerischen Notting Hill verlassen. Die vor 7 Jahren für 6 Millionen erworbene Immobilie wurde im Sommer für 12,5 Millionen Pfund verkauft. Der Plan der Investoren: Luxuswohnungen. Der aus Osteuropa stammende Hostelbesitzer nahm das Geld dankend an und investierte, seinem Riecher für Gentrifizierung folgend, in eine bis dato unbekannte und schmucklose Gegend, die sich in den nächsten Jahren grundlegend verändern wird – Harlesden. Dieser Stadtteil im Nordwesten ähnelt einem wahrhaften Global Village. Menschen aus aller Herren Länder zeigen eindrucksvoll auf, dass nur ein Ort in Europa den Titel einer Weltstadt wirklich verdient: London.
Doch nun zum Sport. Die schillernde Welt der Premier League will so gar nicht zu den Gegenden passen, in denen die Stadien angesiedelt sind. West Ham United, ein Verein, der sich eigentlich als authentischer Arbeiterverein versteht, wird seine angestammte Heimat tief im Londoner Osten bald verlassen und ins Olympiastadion umziehen. Dort ist mehr Geld zu verdienen. Die Fans sind wenig begeistert, zeigen sich aber dennoch stimmgewaltig und unterstützen die Spieler auf dem Platz mit einem „Roar“, der Gänsehaut erzeugt. Die Vereinshymne „Forever Blowing Bubbles“, die von ewiger Erfolgslosigkeit kündet, zeugt von der Selbstironie der Anhängerschaft. Dementsprechend ist das umkämpfte und sehenswerte 0:0 gegen Aston Villa keine große Überraschung. Dennoch ist man stolz auf den besten Saisonstart seit Jahrzehnten.
Nicht nur in sportlicher Hinsicht bedrückend ist die Stimmung in Tottenham, im Norden der Stadt. Entsteigt man der U-Bahnstation Seven Sisters, erscheint es unwirklich, dass die Sportwagen der Spieler von Tottenham Hotspur über den Asphalt der Straßen dieses verwahrlosten Bezirks rollen. Größere Kontraste findet man in London nirgends. Das Stadion an der White Hart Lane steht, wenn man so will, mitten im Armenhaus Londons. Nicht umsonst brachen genau hier vor einigen Jahren die schwersten Unruhen seit langer Zeit aus. Kein Anwohner ist hier in der Lage, sich eine Karte für ein Spiel der Spurs zu kaufen. Fans sind sie trotzdem alle. Betritt man das Stadion durch die engen Drehkreuze, schaut man plötzlich nur noch in weiße Gesichter. London – eine Stadt der Gegensätze. Auch sportlich läuft bei den Spurs einiges verkehrt. Unsere fantastischen Plätze direkt an der Eckfahne lassen uns den Marktwert der Superstars aufrechnen, die es alle nicht bringen und sich deshalb neben der Ersatzbank direkt vor unserer Nase aufwärmen: Adebayor, Vertonghen, Lamela, Dembélé – 50 Millionen Pfund sind das gut und gerne. Im Laufe des sonnigen Nachmittags erleben wir, wie Stoke City die White Hart Lane mucksmäuschenstill spielt. Hocherfreut singen deren Fans: „This is a library!“ Die Spurs gehen mit 1:2 sang- und klanglos unter.
Die Grabesstimmung aufnehmend zieht es uns am Abend zum Tower, vor dessen Mauern zum Gedenken an die britischen Kriegsopfer des 1. Weltkrieges 888.246 Mohnblumen aus Keramik gesteckt wurden. Es ist Rememberance Sunday in England und die ganze Stadt ist auf den Beinen. Die Tower Poppies ziehen in 4 Tagen Ausstellung ganze 4 Millionen Menschen an. London – eine Stadt der Superlative.
Zurück nach Harlesden, der Wiege der britischen Reggae-Kultur in unseren urgemütlichen Pub direkt unter dem Hostel. Hier entstand einst das legendäre Plattenlabel Trojan Records, das u.a. den Welthit „Red Red Wine“ hervorbrachte. Bald werden auch hier Luxuswohnungen entstehen, aber bis dahin genießen wir das normale Alltagstreiben abseits der Touristenpfade. Viele Eindrücke werden verarbeitet und der letzte Tag geplant, der dann das volle Touristenprogramm bei royalem Wetter bietet: Buckingham Palace, die Wacheablösung an der Horse Guard Parade, Trafalgar Square und Covent Garden. Die schöne, touristische Seite Londons kann auch sehr viel Spaß bereiten, doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.
Roderik Becker