„Hör auf die Stimme“ – Gottes Anspruch und die Antwort des Menschen
Predigt von Bischof Peter Kohlgraf bei der Missa Chrismatis im Mainzer Dom am Montag, 26. März 2018

Hör auf die Stimme – dazu rief das Lied auf, das wir in diesem Gottesdienst gehört haben. Hör auf die Stimme, sie rät dir, sie macht dich stark, sie hilft dir, dich zu entscheiden. Sie will, dass du es schaffst. Du musst dich entscheiden, aber die Stimme sagt dir, wo es lang geht.

Ein Satz fällt mir besonders auf: „Hör auf dein Bauchgefühl; glaub mir, du bestimmst den Weg“. Der Texter des Liedes ist wohl davon überzeugt, dass das Bauchgefühl dir schon sagen wird, was für dich richtig ist. Mancher Ratgeber würde dies einem jungen Menschen sagen: hör auf dein Bauchgefühl, in Fragen der Berufswahl, der Partnerschaft, in deinen Lebenseinstellungen. Woran kann man das Bauchgefühl feststellen? In einem Internetartikel finden sich folgende Merkmale:

„Das Bauchgefühl äußert sich anhand körperlicher Wahrnehmungen. Das sind unmittelbar auftauchende Körpersignale, die uns entweder „Zustimmung“ oder „Vermeidung“ signalisieren.

Positive somatische Marker (Zustimmung) äußern sich z.B. als ein fröhliches Herzflattern, ein Kribbeln im Bauch oder andere Gefühle oder Körperreaktionen, die als angenehm empfunden werden. Sie sind ein Signal, das uns sagt: Tu es!

Negative somatische Marker (Vermeidung) sind z.B. ein Schmerzen in der Magengegend, ein Enge-Gefühl in der Brust oder andere Körperreaktionen und Gefühle, die als unangenehm oder sogar bedrohlich empfunden werden. Sie sind ein Vermeidungs- oder Fluchtsignal.”[1]

Ich stehe also vor einer wichtigen Entscheidung. Ich wäge Verstandesargumente ab, und nun kommt ein Kribbeln im Bauch oder ein anderes angenehmes Gefühl, das mir sagt, dass das genau passt. Hör auf diese Stimme. Du hast die Antworten sozusagen in dir. Du musst das tun, was dir ein gutes Gefühl macht. Bei unangenehmen Signalen weißt du, dass du den falschen Weg gehst. Tatsächlich kann dies für manche Entscheidung im Leben hilfreich sein: wenn ich einen Menschen sehe, in dessen Nähe ich mich körperlich und seelisch wohl fühle, kann dies eine gute Grundlage für Freundschaft oder Partnerschaft sein. Wenn ich einen Beruf ergreife, der mich täglich neu mit Freude erfüllt, hat mich mein Bauchgefühl nicht getäuscht.

Hat die Kirche etwas gegen ein solches Bauchgefühl? Ich glaube zunächst einmal nicht. Aber: es kann sein, dass es einmal um mehr geht, als dass ich mich gut bei etwas fühle, oder dass ich am Ende gut dastehe. Wir sprechen von Gewissen als einer inneren Stimme. Jeder Mensch hat ein Gewissen, das ihm sagt, was gut ist, oder auch, was schlecht ist. Das Gewissen aber ist mehr als ein gutes Gefühl. Vielleicht kann es sogar so weit kommen, dass ich gegen mein Bauchgefühl handeln muss, weil ich weiß, dass die Entscheidung, vor der ich stehe, richtig ist, auch wenn ich Angst vor etwas habe, oder sie mir Nachteile einbringt.

Ich möchte Euch von einem Menschen erzählen, der seinem Gewissen gefolgt ist. Von Natur aus kein Held, nicht herausragend begabt, nicht erfolgreich, im Großen und Ganzen normal. Im Jahr 1907 wird Franz Jägerstätter in Oberösterreich geboren. Seine Familie ist arm, seine Kindheit verbringt er bei den Großeltern, nach dem Tod seines Vaters heiratet seine Mutter einen anderen Mann. 1933 erbt er den Bauernhof. 1936 heiratet er Franziska, aus dieser Ehe gehen drei Töchter hervor. Er ist ein frommer Mann, geht in die Kirche, liest in der Bibel und beschäftigt sich gerne mit religiösen Themen. 1938 stimmt das Dorf ab, ob sich Österreich dem deutschen Reich anschließen solle, Jägerstätter ist der einzige, der dagegen stimmt. Selbst die Priester wollen ins deutsche Reich, das von den Nationalsozialisten regiert wird. Seine Einstellung bleibt nicht verborgen. 1940 soll er zur Wehrmacht, der II. Weltkrieg hatte begonnen. Zunächst wird seine Einberufung zurückgestellt, er darf bei seiner Familie bleiben. Als er vom sog. Euthanasieprogramm der Nazis und der zunehmenden Christenverfolgung erfährt, beschließt er, den Kriegsdienst zu verweigern. Heute ist dies ein Recht, damals standen darauf Gefängnis und Todesstrafe. Er verweigert öffentlich, indem er sich auf sein Gewissen beruft, sein Glaube verbiete ihm dies.

Und nun beginnt sein Umfeld, auf ihn einwirken zu wollen. Er dürfe dies nicht, was das für die Familie bedeute. Er habe Verantwortung für Frau und Kinder. Selbst der Bischof versucht, ihn umzustimmen. Auch seine Frau stimmt ihn nicht um. Am 6. Juli 1943 wird er zum Tode verurteilt, am 9. August umgebracht. Es gibt einen Satz von ihm, der alles zusammenfasst: „Besser die Hände gefesselt als der Wille!“

Darf er das? Seine Familie im Stich lassen, seinen Kopf durchsetzen? Ich stelle mir vor, dass die Entscheidung für ihn nicht so einfach war, wie ich es eben zusammengefasst habe. Darf ein Mensch sein Gewissen so hoch stellen, dass er ihm auch folgen muss, selbst wenn es solche Nachteile für sich und für andere bringt? Franz Jägerstätter hätte geantwortet: ich muss es tun. Wenn er seinem Gewissen nicht gefolgt wäre, wäre es ein Leben in der Lüge gewesen, und das wäre keine Alternative gewesen. Franz Jägerstätter unterwirft sein Leben einer Wahrheit, dem Anspruch Gottes. Sein Gewissen ist nicht einfach die innere Stimme, die ihm sagt, was gut für ihn ist, auch nicht ein Bauchgefühl. Das Gewissen, die Stimme, wird hörbar in der Beschäftigung mit Gott, mit seinem Wort, seinem Anspruch. Gott hat einen Anspruch an den Menschen. Das Gewissen muss sich an seinem Wort orientieren, sonst bleibt es orientierungslos. Hör auf die Stimme – das muss mehr sein als nur ein Gefühl in mir. Und das Ziel ist offenbar nicht nur, dass es mir gut ergeht. Für mich als glaubenden Christen ist diese Stimme ein Anspruch eines anderen, der an mich ergeht. Es kann sogar sein, dass ich einmal gegen mein Bauchgefühl handeln muss, weil der Anspruch Gottes, sein Wort, etwas anderes sagt. Die Stimme zu hören, ist also ein Ringen, eine Auseinandersetzung, in dem ich meinen Willen mit dem Willen Gottes ins Gespräch bringe. Ich fürchte, diese Stimme, die mir Orientierung schenkt, muss mehr sein als ein Bauchgefühl, kein angenehmes Kribbeln, oder ein körperliches Wohlgefühl. Sie stellt mich auch in Frage, sie ist nicht nur zur Bestätigung da. Dazu aber muss ich das Wort Gottes, seinen Willen, in mein Leben holen.

Vor einigen Tagen wird in Frankreich ein Polizist von einem Attentäter erschossen, der sich gegen eine Geisel hat austauschen lassen: Arnaud Beltram. Er hat wohl gewusst, welcher Gefahr er sich aussetzt. Ist das Bauchgefühl?

Liebe Jugendliche, liebe Schwestern und Brüder,

besonders das Sakrament der Firmung ist eine deutliche Einladung, zu einem mündigen Christen, zu einer mündigen Christin zu werden, ein Mensch mit Gewissen, der zunehmend ein Gespür dafür entwickelt, was gut und auch was böse ist. Ein Mensch zu werden, der mit Gottes Wort Maßstäbe hat über das reine gute Gefühl hinaus. Glauben und Gewissensbildung sind etwas durchaus Anspruchsvolles.

Wir gehen in die Tage des Leidens und Sterbens Jesu. Wir erleben, wie er seinen Weg geht. Er ringt mit seinem Gott und Vater. Hätte er ausschließlich auf sein gutes Bauchgefühl gehört, wäre sein Leben vielleicht anders geendet als am Kreuz. Die Stimme, die Jesus gehört hat, wollte nicht ihn groß rausbringen, sie sprach wohl zu ihm, dass sein Leben gut ist, wenn er es verschenkt. Höre auf die Stimme: ich muss wohl auch die Frage einplanen, wie mein Leben für andere Frucht bringen kann, nicht nur für mich. Für Jesus sind dies die entscheidenden Fragen: was ist Gottes Wille, und was dient dem anderen Menschen. Unangenehme Fragen vielleicht, aber ein guter Rat für ein Leben, das sinnvoll und am Ende sogar glücklich ist.

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