Religion

Religionsunterricht in der Diskussion

„Kann man so was nicht in Sozialkunde oder Ethik durchnehmen?“ „Die kennen die Inhalte der Bibel kaum, verstehen die christlichen Traditionen nicht mehr!“ – so klagen die einen. „Wo berühren die Glaubensinhalte überhaupt mein tägliches Leben?“ „Wer interessiert sich denn für die Meinung der Kirche?“ – so fragen die anderen. Kaum ein Fach wird so kritisch hinterfragt wie der Religionsunterricht, das gilt sowohl für die einzelnen Inhalte als auch für seine Existenzberechtigung überhaupt. Da sind zum einen die Fragen der unmittelbar betroffenen Schüler, die mal eben zwischen Mathe und Sport die Sinnfragen des Lebens meditieren, Liebe, Leid und Tod durchdenken und möglichst auch persönlich verarbeiten sollen. Neben eher formalen Fragen („Warum ist Reli bei uns Pflicht?“, „Warum keine ökumenischen Religionskurse?“, „Warum Religionsunterricht überhaupt?“) werden meist die Antworten des Glaubens kritisch betrachtet und an den eigenen Vorstellungen und Interessen gemessen. Dabei schwanken die Erwartungen von einem stark biblisch-kirchlichen Unterricht bis hin zu einem primär an der alltäglichen Lebenswirklichkeit der Schüler orientierten Vorgehen. Zu den Schülererwartungen kommen die der Eltern, die die religiöse Erziehung ihrer Kinder in Familie und Gemeinde ergänzt, immer häufiger aber auch ersetzt sehen wollen. Dabei sind viele Eltern an unseren Schulen prinzipiell offen gegenüber religiösen Fragen, sehen sich aber auch gelegentlich überfordert im Wirrwarr der vielen Weltanschauungen heute, den eigenen Glauben überzeugend zu vermitteln. Besonders starke Hinterfragung erfährt der Religionsunterricht durch das zwiespältige Verhältnis unserer Gesellschaft zu Religion und besonders zu den christlichen Kirchen: Einerseits wird die generelle Berechtigung des Religionsunterrichtes in einer „offenen“, weltanschaulich neutralen/pluralen Gesellschaft immer wieder von skeptischen Kreisen in Frage gestellt (Christentum als antiquierte Welt- und Lebensdeutung, Religionsunterricht als weltanschauliche Manipulation, Kirche als Hemmschuh von Freiheit und Emanzipation). Andererseits mehren sich gerade in jüngster Zeit die Stimmen, die von Schule und Religionsunterricht eine stark wertorientierte Erziehungsarbeit erhoffen bzw. fordern, um die durch die weltanschauliche Orientierungslosigkeit entstandenen Probleme in unserer Gesellschaft zu lösen (Suche nach verbindlichen Werten, zunehmende Gewaltbereitschaft, neue ethische Fragen am Beginn und Ende des Lebens, Nebeneinander verschiedenster Religionen in unserem Land). Gerade die Diskussion um die Einführung des Religionsunterrichtes in den neuen Bundesländern hat diese Spannung zwischen der Notwendigkeit weltanschaulicher Bindung und der Skepsis gegenüber fertigen Antworten deutlich gemacht. Eine solche Diskussion sollte aber auch immer als Chance genutzt werden, den eigenen Standpunkt neu zu begründen.

Was ist Religion?

Religion ist eine Orientierung des Lebens an einer die greifbare Welt übersteigenden Wirklichkeit. Der religiöse Mensch anerkennt, dass er sich nicht selbst verdankt, dass sein Leben mehr umfasst als die konkrete, sichtbare Welt, und er fühlt sich in dieser übergreifenden Wirklichkeit getragen. Aus dieser Sicherheit heraus kann er leben und handeln. Religion prägt ein bestimmtes Gottes-, Menschen- und Weltbild und kann dadurch eine Hilfe sein, konkrete Lebensfragen einzuordnen und zu bewältigen. Jeder Mensch sucht nach einer solchen Weltdeutung, hat offene Fragen – selbst wenn diese Fragen nicht laut gestellt, überspielt oder verdrängt werden. Der Religionsunterricht hat daher die Aufgabe – diese allgemeinen Menschheitsfragen nach Sinn, Lebensdeutung, gutem Handeln aufzugreifen, – die Antworten der christlichen Tradition und kirchlichen Position auf diese Fragen verständlich zu machen, – die christlichen Antworten den anderen in unserer Gesellschaft gelebten Weltdeutungen gegenüberzustellen.

Die Aufgaben des Religionsunterrichtes

a) Der Religionsunterricht muss mit dem Leben der Schüler zu tun haben, d. h. die Schüler müssen spüren, dass der Glaube relevant ist für ihr Leben, ihre Erfahrungen und Wünsche, für die Deutung ihrer Lebenswirklichkeit. Nur so sind sie zu erreichen und anzusprechen und nur so hat der christliche Glaube einen Sinn. Der Religionsunterricht muss also aufgreifen, was die Schüler im Zusammenleben mit anderen Menschen erfahren und zwar in einer Sprache, die sie erreicht und ihnen verständlich ist. Dies erfordert in erster Linie eine realistische Einschätzung der Glaubenssituation unserer Schüler. Der Religionsunterricht muss sowohl den kirchlich engagierten Jugendlichen als auch den religiös unerfahrenen oder desinteressierten Schüler einbeziehen. Er sollte ein Ort sein, an dem über persönliche Erfahrungen gesprochen, Ängste und Sehnsüchte ins Wort gefasst werden können. Dazu ist eine vertrauensvolle, offene Atmosphäre nötig, die durch den bewegten Schulalltag mit den vielen anderen, eher kopflastigen Fächern nicht immer so leicht herzustellen ist. Der Religionslehrer ist hier besonders gefordert, da er sich nicht einfach auf rein verstandesmäßige Inhalte zurückziehen kann. Es ist zum Beispiel ungleich schwieriger, Schülern zu vermitteln, was Schuld und Vergebung persönlich bedeuten, als sie kirchliche Traditionen zum Thema Buße lernen zu lassen. Erfahrung zielt auf den emotionalen Bereich. Dass andererseits das offene und engagierte Gespräch da, wo es gelingt, zu den besonders wertvollen und bereichernden Unterrichtsstunden gehört, soll auch erwähnt sein. Eine besondere Hilfe sind hier auch die vielen anderen Räume für Gespräch und religiöse Praxis, die die Schulseelsorge an unserer Schule zur Verfügung hält: die Tradition des regelmäßigen Gebetes, der Raum der Kapelle, die Gottesdienste, die religiösen Jugendgruppen, Besinnungstage etc. Wenn der Religionsunterricht die Erfahrungen der Schüler mit einbezieht, wird er selbstverständlich Bezug zu den Themen der heutigen Zeit nehmen. Glaubenserziehung geschieht nicht im Vakuum, sondern im Hier und Jetzt.

b) Der Religionsunterricht soll zu einem begründeten Standpunkt zum christlichen Glauben verhelfen. Der christliche Glaube gibt Antworten auf die Fragen der Menschen oder zumindest einen Horizont, in dem Antworten möglich sind. Wie sehr diese Antworten der biblischen und kirchlichen Traditionen unseren abendländischen Kulturkreis und unser Menschenbild prägen, ist uns gar nicht immer bewusst. Der Unterricht soll die christlichen Traditionen aufzeigen und erklären, er soll das christliche Gottes- und Menschenbild und seine Konsequenzen für unsere Lebensführung klar machen. Und diese Konsequenzen sind sehr konkret. Denn wenn Gott jeden Menschen bedingungslos liebt, dann hat das Folgen für unseren Umgang mit Krankheit, Behinderung, Lebensanfang und –ende. Dabei muss klar werden, dass die christliche Botschaft nicht auf jede gesellschaftliche Frage eine eindeutige Antwort bereit hält. Auch wenn am Willigis der Religionsunterricht verpflichtend ist, so hat er doch Angebotscharakter, er muss die Freiheit der Jugendlichen achten und jede Indoktrination vermeiden. Glauben lässt sich nicht beweisen oder gar erzwingen. Allerdings sollen sich die Schüler mit dem Angebot des christlichen Glaubens auseinandersetzen, ihre eigene Position, aber auch die des anders denkenden begründen können. Das gilt sowohl für die religiös engagierten als auch für die dem Glauben ablehnend gegenüberstehenden Schüler.

c) Der Religionsunterricht soll einen Weg weisen durch die vielen Weltanschauungen heute. Da sind zum einen die anderen Religionen, mit denen wir immer näher zusammen leben. Eine wichtige Aufgabe des Religionsunterrichtes besteht darin, fremde Religionen unbefangen wahrzunehmen, sie in ihrer Andersartigkeit einfühlsam und fair den Schülern darzulegen, ja aus ihrem Reichtum zu lernen. Keineswegs muss sich dabei der Religionslehrer einer fremden Religion unkritisch nähern, denn jede Religion ist gefährdet, in ideologischer Erstarrung oder in äußerliche Rituale abzusinken; erwartet wird aber ein wohlwollender Blick und die Bereitschaft, die Menschenfreundlichkeit auch anderer Religionen zu akzeptieren. Die Begegnung mit fremden Religionen ist auch eine Übung, das eigene Profil deutlicher wahr zu nehmen, kulturgeschichtliche Verschiedenheiten zu erkennen und die Unmöglichkeit einfacher und eindeutiger Antworten auszuhalten. Da sind zum anderen Weltdeutungen, die versuchen, ohne Gott aus zu kommen. Sie stellen den selbständigen Menschen und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt, Gott und Jenseits an den Rand des Denkens. So sehr in diesen Denkmustern die menschliche Freiheit im Zentrum steht, so sehr können sie aber auch zu Machbarkeitsglaube und biologistischen Engführungen abgleiten. Es muss die Frage gestellt werden, wie ohne einen personalen Gott die Fragen nach Sinn oder einer unbedingten Würde des Menschen beantwortet werden können. Der Psychologe Erik Erikson hat einmal die Situation der Heranwachsenden mit einem Trapezkünstler verglichen, der ohne Netz in der Zirkuskuppel von einem Trapez – der Welt der Kindheit – auf das andere Trapez – der Welt der Erwachsenen – hinüberfliegen will. Er muss das eine Trapez loslassen, muss sich notwendig vom Alten und Überkommenen losmachen, um einen neuen, einen eigenen Standort zu gewinnen. Dabei fliegt er frei im Raum und ist natürlich hierbei besonders gefährdet. Dieses Bild ist vielleicht überfordert, denn es gibt ja in unserer pluralen Gesellschaft nicht nur ein einziges Trapez, d. h. ein einziges Wertsystem. Es wäre schön, wenn der Religionsunterricht eine wichtige Hilfe sein könnte, mit den vielfältigen Angeboten, Positionen und Lebensformen in unserer Welt umgehen zu lernen und einen eigenen Standort zu finden.

Anne Weiler